Liebe Leser,
der leider schon vor einem Vierteljahrhundert verstorbene Altmeister des Börsen-Smalltalks, der Ungar André Kostolany (1906-1999), hatte immer ein eingängiges Bild zum Zusammenhang von Wirtschaft und Aktienbörse zur Hand. In seinem mit ungarischer Tonmelodie unterlegten Fast-richtig-Deutsch begann er dann zu erzählten.
Stellen Sie sich das wie einen Hund an der längeren Leine seines Herrchens vor, der durch einen weitläufigen Park spazieren geht. Der Herr ist die gemächliche Wirtschaft des Landes, der Hund die Börse. Mal läuft das Tier voraus, mal trödelt es hinterher. Aber wegen der Leine kommt es nie ganz von Herrchen weg. Heißt weniger bildhaft: es besteht einen Verbindung zwischen Konjunktur und Aktienkursen, aber sie ist nicht mathematisch fest.
Das werden wir uns gleich mal im Bild anschauen. Aber zunächst noch ein echter Kostolany: „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie man schnell reich wird; ich kann Ihnen aber sagen, wie man schnell arm wird: indem man nämlich versucht, schnell reich zu werden.“
Zunächst zum Inhalt der Grafik. Sie stellt dem quartalsweise veröffentlichten realen Bruttoinlandsprodukt (BIP), der Berechnungsgrundlage der Aussage „Wirtschaftswachstum“, einen um die Inflation bereinigten breiten Aktienindex (CDAX) gegenüber.
Und nun die Interpretation von „Herrchen und Hund“: natürlich ist das alles von einer vollen Korrelation weit entfernt, wie bei vielen wirtschaftlichen Zusammenhängen. Und so richtig will auch kein Börsenbarometer daraus werden, dafür sind die Abweichungen zu groß und zu langfristig. Aber man ahnt schon, dass es eine gewisse Verbindung zwischen den Kurven gibt – halt mit einer sehr lange Hundeleine. Und man kann am Ende einen recht freundlichen Eindruck mitnehmen: überteuert wirkt der Aktienmarkt in dieser Darstellung eigentlich nicht.
Themenwechsel. Als dritte Frage einer kleinen Anfrage im Bundestag wollten letztes Jahr Abgeordnete der AfD wissen: „Wie viele Angriffe erfolgten nach Kenntnis der Bundesregierung auf Repräsentanten der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien seit der 19. Wahlperiode (bitte nach Jahren, Partei und Phänomenbereich aufschlüsseln)?“ Als hätten sie geahnt, dass darüber nach dem schweren Verprügeln eines SPD-Plakatklebers am letzten Freitagabend eine große Diskussion ausbrechen würde.
Verblüffendes Ergebnis der Antwort im Januar 2024: da stehen sich in puncto radikale Wut auf Parteien AfD und GRÜNE sehr nahe. Im Zeitraum 2019 bis 2023 (das letzte Jahr nicht ganz vollständig) wurden 3.006 AfD-ler angegriffen, aber auch 2.829 GRÜNE. Die beiden machten zusammen 54 Prozent aller 10.743 Attacken aus.
Auffällig ist in der Tabelle auch, dass sich die Angriffe auf GRÜNE im Zeitablauf dauernd verstärkt und gerade 2023 einen kräftigen Sprung um 112 Prozent gemacht haben, während die AfD-ler im Vergleich zu früher nun eher weniger gefährdet waren. Mit Abstand am wenigsten Gefahren gehen die CSU-Vertreter ein. Auf sie entfielen im letzten halben Jahrzehnt nur 3,3 Prozent aller persönlichen Bedrohungen. Hat wohl etwas mit der starken Verankerung in einer begrenzten Heimat zu tun.
Interessant auch der aktuelle Fall. Da hatten vier junge Männer den Dresdner SPD-Europaabgeordneten Matthias Ecke offenbar so brutal geschlagen, dass er ins Krankenhaus kam und am kaputten Jochbein operiert werden musste. So weit, so oberübel. Doch nun lief eine Art Empörungsmaschine an, bevor irgendwer irgendwas Genaues wissen konnte.
Sofort war von Bedrohung der Demokratie die Rede, weil der brutal Geschlagene nächtens beim Kleben von Wahlkampfplakaten gewesen war. Einige beschworen gleich die Anfänge vom Ende der Weimarer Republik. Die Innenminister der Länder verabredeten sich mit ihrer Bundeskollegin für Dienstag spontan zu einem virtuellen Treffen. Über 100 Politiker aus Stadt und Land schrieben in einem offenen Brief von bösen Gefahren. Protestkundgebungen fanden sich zusammen. Und die Medien überschlugen sich fast.
Je mehr jetzt herauskommt, stand jedoch vielleicht doch nicht so sehr die Weimarer Zeit im Hintergrund, sondern hatten vier prügellustige Jugendliche krampfhaft ein Opfer gesucht. Und nachts sind halt nicht so viele Aspiranten unterwegs, die man vertrimmen kann. Da kamen der SPD-Plakatkleber und später noch ein grüner Kollege von ihm gerade recht.
So brachte denn auch schon am Sonntag seine Mutti einen 17-jährigen Schläger zur Polizeiwache, wo er sich stellte. Montag früh stand dann bei den anderen drei die Polizei vor der Tür – zwei ebenfalls 17-jährige und ein 18-jähriger. Die Hintergründe der Tat bleiben bisher unklar.
Aber weil eine böse Laune und ein „Zur falschen Zeit am falschen Platz“ wohl eher zutreffen könnten als eine dicke Politkrise, begannen sich die Medien genauso schnell aus der Story zu verabschieden, wie sie sie hochgeputscht hatten. Und warum sollen auch AfD-ler in Sachsen mit Wissen der Partei – und das wäre ja der Unterschied zu Weimar – SPD-Wahlkämpfer überfallen? Nach einer aktuellen Umfrage im Auftrag der „Sächsischen Zeitung“ liegt die AfD bei 37 Prozent und die SPD nur noch bei kläglichen drei Prozent.
(Quelle: WELT, 6.5.24, https://www.welt.de/regionales/sachsen/article251376476/Nach-Angriff-auf-SPD-Politiker-Drei-weitere-Tatverdaechtige.html und: https://www.welt.de/politik/deutschland/article251401130/Angriff-auf-Matthias-Ecke-Reul-haelt-umfassende-Polizeibetreuung-von-Politikern-fuer-unmoeglich.html )
Und auch in der Politik kehrt jetzt nach der Aufregungswelle die Sachlichkeit zurück. So lehnte NRW-Innenminister Herbert Reul Rufe nach Polizeischutz für alle Politiker rundweg ab: „Ist doch irre zu glauben, wir könnten alle Politiker einzeln beobachten“, so Reul am Dienstag im „Morgenecho“ auf WDR 5 und teilt sachlich mit: „Allein von der Menge geht‘s nicht.“