Liebe Leser,
in der Morgenmail „Öffentliche Diskussion: Nachhaltigkeit weniger bedeutend?“ am 19. März dieses Jahres hatte ich Sie darauf aufmerksam gemacht, das der Begriff „nachhaltig“ so ein bisschen aus der Mode gekommen zu sein scheint und das mit dem Rückgang der Suchanfragen danach in Google zu belegen versucht. Inzwischen haben diese Anfragen den niedrigsten Stand seit vier Jahren erreicht und sind in einem klaren Abwärtstrend.
Den absoluten Höhepunkt des Interesses hatte die Nachhaltigkeit – zumindest gemessen an Google – im November 2021 erreicht. In den Monaten zuvor hatte die Bio Company, die nach ihrer Gründung 1999 inzwischen in Berlin 60 Bioläden betreibt, ein weiteres Angebot in ihren Rundum-Nachhaltig-Kosmos aufgenommen: „Durch eine Kooperation mit dem Berliner Start-up Avocargo stehen unseren Kund*innen künftig Sharing-E-Lastenräder vergünstigt zur Verfügung. Das erste Testgebiet befindet sich im Prenzlauer Berg in Berlin. Auf weitere Kieze und Städte soll dann ausgeweitet werden.“
Keine zwei Jahre später war das Start-up der drei Gründer Marc Shakory-Tabrizi, Matti Schurr und LoicPinel im April 2023 pleite. Ähnlich wie Tretroller oder Autos hatten sie die Räder mit Elektromotor im Berliner Stadtgebiet aufgestellt, die dann über eine App genutzt werden konnten. Außerdem vermietete Avocargo die Fahrzeuge im Monatsabo. Kapitalgeber wie EIT InnoEnergy oder Alexander Eitner, der Gründer des Carsharing-Anbieters Miles, hatten in die nachhaltige Idee investiert und Einzelhändler wie die Bio Company und Getränke Hoffmann übernahmen für ihre Kundschaft einen Teil der Mietkosten.
Der Firmenzwerg an der Spree ist kein Einzelfall: diverse E-Scooter-Firmen und Express-Lieferdienste kämpfen inzwischen ums Überleben. Etwa der Lieferdienst Flink, dessen Konkurrent Gorillas oder das einstige E-Scooter-Anbieter Tier. Eine Grafik im Manager-Magazin hat diesen Höhenflug und Absturz der „Einhörner“ (Milliardenbewertung bei Finanzierungen) einzufangen versucht. Der türkische Lebensmittelbringdienst Getir etwa wurde in der Spitze mit 11,8 Milliarden Euro bewertet, bei der letzten Runde war es nicht einmal mehr ein Viertel.
(Quelle: MM, 22.3.24, https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/start-ups-in-der-krise-die-dunkle-seite-des-venture-capital-a-8ba9bc14-6c32-4dfc-9db2-8b4887969c40 )
Getir, dessen Fahrräder Sie öfter durch die Straßen flitzen sehen, soll nach Branchengerüchten vor dem Rückzug aus dem deutschen Markt stehen. Noch 2022 hatte der Dienst den angeschlagenen Konkurrenten Gorillas übernommen. Jetzt ziehen Handelsexperten wie Eva Stüber vom Kölner „Institut für Handelsforschung“ gar die Geschäftsgrundlage solcher Flitzer in Zweifel. In der Pandemie, so Stüber, sollten Kontakte vermieden werden und es war aufregend, innerhalb von 10 Minuten beliefert zu werden. Aber: „Aus Versorgungsgründen muss niemand darauf zurückgreifen, wir haben in Deutschland das weltweit stärkste stationäre Handelsnetz – gerade in den großen Städten, wo die Schnelllieferdienste unterwegs sind.“
Es leuchtet sofort ein, dass die Schlacht um Minutenlieferung enorme Kosten – etwa eines engmaschigen – Liefer- und Lagernetzes verursacht. Über 1.500 Produkte, sollen laut Getir von morgens bis spät abends außer Sonntag in „ca. 10 Minuten“ an die Haustür kommen, wobei man die „Rider“ fair und mit Respekt behandeln will. Ob man das von den Kunden irgendwann auch mal fair bezahlt bekommen wird, steht dahin. Da könnte man den Spruch meines Sohnes anhängen, als ich ihm, getrennt von meiner Ex-Frau lebend, die missratenen Klassenarbeiten abzeichnen sollte: „Ein Versuch war es wert.“
(Quelle: SPIEGEL, 27.4.24, https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/getir-die-schnelle-lieferung-braucht-es-langfristig-vielleicht-gar-nicht-a-d3952f25-1da4-4db4-b5a2-d0755322a65d und: https://getir.com/de/ )
Ob die Investoren das auch so locker sehen, die in das Unternehmen Getir aus Istanbul bisher 1,8 Milliarden Dollar gesteckt haben? Im Moment soll das Start-up monatlich noch 50 bis 100 Millionen Euro verbrennen. Kein Einzelfall in der Branche. Ein Anbieter, der mit den Expresslieferungen schon einen Euro echt verdient hat, ist nicht bekannt.
Stimmt es, dass Getir und Gorillas aus Deutschland abziehen, bleibt hierzulande nur noch Flink übrig. Da könnte man denken: „The winner takes it all.“ Sozusagen 100 Prozent Marktanteil, ein Monopol auf Minutenbestellungen. Nur beseitigt auch das nicht das Problem, dass der Kunde am Ende für die hohen Kosten zahlen muss. Nach Otto Strecker, Experte für Lebensmittelmarketing und Vorstand der AFC Consulting Group AG, wird es daher auch für Flink kein Happy End in Sachen Quick-Commerce geben. Es heißt nach Strecker im Gegenteil: „Der Letzte macht das Licht aus.“
(Quelle: ntv, 26.4.24, https://www.n-tv.de/wirtschaft/wirtschaft_startup/Auch-fuer-Flink-wird-es-kein-Happy-End-geben-article24902644.html )
Er begründet das einleuchtend: „Deutschland ist der härteste Lebensmittel-Markt der Welt.“ Daher sind die Margen bei Lebensmitteln hier geringer als in anderen Ländern. „Es ist weniger Geld zur Verfügung, um Lieferungen aus der Produktmarge zu subventionieren, deren Kosten durch die Liefergebühr nicht gedeckt werden können. Wenn man dann noch schlechter einkauft als einer der Handelsriesen und trotzdem zu Supermarktpreisen verkaufen will, wird es eng.“
Das soll sich gar nicht so hämisch anhören wie es vielleicht klingt. Natürlich gilt: ohne kreatives Ausprobieren geht es nicht voran. Es gilt aber auch: nicht jedes Ausprobieren muss ein Erfolg werden. Die Sorglosigkeit der Nullzinsphase gab es dann noch obendrauf. Die Nachhaltigkeit von Fahrradleihe, Elektrorollern und Verzicht auf das eigene Verbrennerauto bei Lieferung war dann nach meiner Einschätzung nur ein grüner „Zuckerguss“ auf der Investition. Denn am Ende zählt nur eins: Überleben und damit Geldverdienen.
Zuletzt noch: beruhigend, die alten, weißen Männer bewahren sich auch in diesen für sie unruhigen Zeiten einen restlichen Humor.
Die von einem treuen Leser zugesandte Bildfolge zeigt doch die verschiedenen Geschlechter – einschließlich der neuen diversen Komponente – in einer für Kerle einleuchtenden Form.