Liebe Leser,
erinnern Sie sich noch schemenhaft an die ersten Zeiten nach Ausbruch des Ukrainekrieges im Februar 2022? Da war Energie ein ganz großes Thema, weil die Gasversorgung Europas aus Russland erst zu versiegen drohte und dann zum beachtlichen Teil versiegte. Da kostete dann zum Beispiel auch eine Tonne Kohle bis zu 440 Dollar. In den letzten Tagen ist das damals teure „Schwarze Gold“ wieder in den zweistelligen Preisbereich auf 97 Dollar und damit um 78 Prozent gefallen.
(Quelle: TradingEconomics, https://tradingeconomics.com/commodity/coal )
Wie überhaupt fossile Energie billig wie seit Langem nicht mehr ist. Etwa Ami-Öl: der Barrel der Referenzsorte WTI notiert unter 60 Dollar und damit 48 Prozent niedriger als beim Hoch von 2022. Und auch sein europäisches Gegenstück der Sorte Brent hat wieder kräftig nachgegeben. Beide kosten jetzt in der Gegend ihres Durchschnitts vom letzten Vierteljahrhundert – von Inflationsgefahr in diesem Bereich also weit und breit nichts zu sehen.
Wie überhaupt die Rohstoff- und Energiepreise im Moment keine Signale dieser Art aussenden. Und wenn diese Zollakrobatik von Herrn Trump außerhalb der USA irgendeine Auswirkung haben sollte, dann ist es doch eher eine Preisdämpfung. Denn was in den USA bei zollbedingt höheren Preisen nicht verkauft werden kann, landet doch wohl – zumindest zum Teil – auf anderen Märkten. Wo es auch die dortigen Produzenten daran hindert, ihre Abgabepreise zu erhöhen.
Ausgangspunkt der Preiswelle ab Februar 2022, die uns allen noch in Form höherer Preise in den Knochen steckt, war der russische Überfall auf die Ukraine. Ich habe immer mal für Sie aufs Kriegsgeschehen geschaut und es anhand der belegten Materialverluste einzuordnen versucht. Sie kennen meine Standardtabelle zum Thema mit Quelle des US-Nachrichtenportals ORYX, das Fotos und Videos mit Ortsnachweis vergleicht, was dann auf Minimalzahlen für die Verschrottung im Kampf hinausläuft – denn was nicht belegt ist, wird auch nicht gezählt. Hier mal eine aktuelle Gegenüberstellung.
Ich komme drauf, weil ORYX gerade eine bildliche Aufstellung der russischen Verluste ins Netz gestellt hat. Sie können da für jede Art von größerem Kriegsgerät die Zahl der Verluste sehen. Ganz vorn die russischen Kampfpanzer mit 3.847 verlorenen Einheiten. Aber zum Beispiel gingen auch 157 Kampfflugzeuge, 157 Hubschrauber und 28 Kriegsschiffe verloren. Nicht zu unterschätzen die gepanzerten Transportwagen und leichten Kampfwagen mit denen die Infanterie vorgehen soll. Über 8.300 Einheiten davon wurden außer Gefecht gesetzt, weshalb die Russen nun auch mit allem vorzupreschen versuchen, was schnell Distanzen überbrückt: Pkws, Motorräder und Buggys, selbst Elektroroller wurden schon gesichtet.
(Quelle: ORYX, https://www.oryxspioenkop.com/2022/02/attack-on-europe-documenting-equipment.html )
Alles nicht gerade Ruhmesblätter für eine anfangs zahlenmäßig derart überlegene Streitmacht. Deshalb könnte man vielleicht auch die jetzt beschworene Überlegenheit Putins bei einem Angriff auf Europa etwas in Zweifel ziehen. Wir kennen unsere Mängel halt gut, aber der potentielle Gegner dürfte auch nicht ohne Schwächen sein. Wenn man das nicht ausprobieren möchte, hilft nur eins: die deutlich höhere Wirtschaftskraft in eine Verbesserung der Streitkräfte zu investieren. Da kann Putin genauso wenig mithalten wie die UdSSR beim Wettrennen vor dem Mauerfall.
Dazu passend eine weitere Angewohnheit von mir: die vergleichsweise offenen Reden der russischen Zentralbankchefin Elvira Nabiullina. Letzte Woche hat sie wieder eine vor einem Parlamentsausschuss gehalten. Man merkt ihr an, dass sie unter erheblichem Druck steht, den Leitzins von 21 Prozent zu rechtfertigen. Da zählt sie Erfolge an der Inflationsfront und eine weiter starke Kreditvergabe als Erfolge auf, um dann doch zu warnen: „Dennoch sind wir hinsichtlich einer Leitzinssenkung sehr vorsichtig, insbesondere angesichts der Erfahrungen des vergangenen Jahres. In der Märzsitzung des Verwaltungsrats wurde eine Leitzinssenkung nicht einmal diskutiert.“ Im vergangenen Jahr hatte man die Inflation – derzeit bei etwas über 10 Prozent – ziemlich unterschätzt.
(Quelle: Bank of Russia, https://www.cbr.ru/eng/press/event/?id=23519 )
Nur leicht versteckt kommt Elvira dann zum Kern des Problems: „Natürlich würde sich jeder einen schnelleren Rückgang der Zinsen wünschen. Es wäre jedoch naiv zu glauben, der Leitzins sei ein Zaubermittel. Eine Leitzinssenkung unter Missachtung der hohen Inflation hätte negative Folgen: einen erneuten Preisanstieg und einen noch stärkeren Anstieg der Marktzinsen.“ Um dann recht klar zu werden: „Die Wirtschaft nutzt heute fast alle verfügbaren Ressourcen. Ein deutlicher Beweis dafür ist die rekordniedrige Arbeitslosigkeit.“
Und daraus folgt: „Daher ist eine Nachfrageförderung, wenn überhaupt, nur bedingt möglich. Dies gilt sowohl für subventionierte Hypotheken als auch für subventionierte Unternehmenskredite. Egal wie man den Kuchen aufteilt, er bleibt gleich groß. Unter den gegenwärtigen Bedingungen gibt es nur einen effizienten Weg, das Wirtschaftspotenzial zu erweitern: Wir müssen neue Technologien einführen und die Arbeitsproduktivität steigern. Eine moderate Inflation bietet dabei einen guten Ausgleich.”
Wie aus dem Engpass herauskommen? Elvira: „Es stellt sich die Frage, woher das Geld für neue Ausrüstung und neue Technologien kommen soll. Ich habe bereits gesagt, dass die Gewinne nach wie vor hoch sind, aber nicht alle Unternehmen sind in der Lage, ihre Entwicklung allein aus Gewinnen zu finanzieren. Unserer Meinung nach sollten sich schnell wachsende und etablierte, namhafte Unternehmen durch öffentliche Aktienemissionen an der Börse finanzieren.“ Und ist zuversichtlich, dass das auch klappt: „Immer mehr Unternehmen werden sich für Börsengänge entscheiden, wobei derzeit unklar ist, wie schnell dieser Prozess verlaufen wird.“
Ich wäre da als ferner Beobachter nicht so optimistisch. Erfahrungsgemäß ist es für stark staatlich beeinflusste Wirtschaftssysteme nicht einfach, Innovation in Bereichen anzustoßen, die nicht direkt oder sofort wie Waffenentwicklungen zu ihrem Nutzen dienen. Und ein Problem bleibt so oder so: bei einer Arbeitslosenrate von nur leicht über zwei Prozent kann es neben dem boomenden Rüstungssektor nur wenige Spielräume geben. Wie war das mit Elviras aufzuteilendem Kuchen?