Liebe Leser,
in unserer Art von Gesellschaftssystem befinden sich die Arbeitnehmer permanent in einem Wettlauf zwischen ihren Einkommen und der Inflationsrate. Liegt die Veränderung der Löhne und Gehälter, die vornehmlich von den Gewerkschaften, bei anspruchsvollen Berufen aber auch von den Betroffenen selbst erstritten wird, über der Inflationsrate, dann können sie sich mit ihren Einkommen mehr kaufen und umgekehrt. Die letzten Jahre mit der ukrainebedingten Inflationswelle bieten dafür ein gutes Beispiel.
Jahrelang lagen die Lohnzuwächse (rote Linie) nominal – wenngleich meist moderat – über den allgemeinen Preissteigerungen (braune Linie). Da wuchsen über lange Zeit die Reallöhne – sprich die Arbeitnehmer hatten mehr Kaufkraft im Portemonnaie. Dann schnellten die Preise ab 2022 markant in die Höhe und die Nominallöhne folgten erst mit Verzögerung, weil die Gewerkschaften bei ihren Tarifabschlüssen erst mal Luft holen mussten. Der erste blaue Pfeil in der nächsten Grafik deutet an, dass da zunächst eine Einbuße für die Beschäftigten zu verzeichnen war. Der zweite blaue Pfeil zeigt, dass danach ein Nachholeffekt durchaus spürbar war: die Inflationsrate beruhigte sich, während die Tarifabschlüsse mit Timelag zu höheren Einkommen führten.
Man kann diese Entwicklung auch anders darstellen, wenngleich das in der Sache zum gleichen Ergebnis führt. Die oben genannte Komfortphase für Arbeitnehmer dauerte von der Finanzkrise bis zum 1. Quartal 2020 und brachte ihnen einen Anstieg der Reallöhne (Nominallöhne minus Inflation) von 13 Prozent. Die Beschäftigten konnten sich knapp ein Achtel mehr von ihren Löhnen kaufen als zu Beginn der Periode. Ab dann ging fast die Hälfte dieses Zuwachses – in der Ukrainekrise forciert – wieder verloren. Und seither kam es dann vom 1. Quartal 2023 an wieder zu einer Verbesserung. Ich nehme immer Vier-Quartale-Durchschnitte, weil sonst Urlaubs- und Weihnachtsgeld die Reihen saisonal verzerren.
Hinter der Frage, wie es weiter gehen könnte, stecken zwei Aspekte: wie läuft es mit den Tarifabschlüssen und wie mit den Preisen? Meine Grundeinschätzungen dazu kennen Sie: die maue Konjunktur wird mit Verzögerung auch auf den Arbeitsmarkt durchschlagen, was dann natürlich auch die Lohnforderungen drückt – wie man zum Bespiel bei Volkswagen erahnen kann. Die Inflation dürfte, jenseits aller Schwankungen, eher moderat bleiben. Damit sind möglicherweise insgesamt noch Reallohnsteigerungen drin, die aber wohl nicht mehr so dynamisch ausfallen dürften wie in den letzten Quartalen. Da wurden nämlich fast zwei Drittel des vorangegangenen Rückschlags wieder aufgeholt.
Da Sie das mit dem Wirtschaftswachstum 2024 vermutlich schon gelesen haben, hier nur eine kurze Nachlese. Man mag es kaum noch hören, aber Ruth Brand, seit 2023 Chefin des Statistischen Bundesamtes, brachte es bei der Vorlage der ersten Schätzung für das Bruttoinlandsprodukt noch einmal auf den Punkt: „Konjunkturelle und strukturelle Belastungen standen im Jahr 2024 einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung im Wege. Dazu zählen zunehmende Konkurrenz für die deutsche Exportwirtschaft auf wichtigen Absatzmärkten, hohe Energiekosten, ein nach wie vor erhöhtes Zinsniveau, aber auch unsichere wirtschaftliche Aussichten.“
(Quelle: destatis, 15.1.25, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/01/PD25_019_811.html )
Dem Dienstleistungsbereich mit einem moderaten Plus von 0,8 Prozent ist es zu danken, dass der Karren nicht noch mehr in den Graben fuhr. Denn in der Industrie ging es mit 3,0 Prozent und im Baugewerbe gar mit 3,8 Prozent schon deutlicher abwärts. Und auch die Investitionen in diesen beiden Sektoren fielen in ähnlicher Größenordnung zurück. Bei Neuanschaffungen von Maschinen, Geräten und Fahrzeugen lag das preisbereinigte Minus sogar 5,5 Prozent unter Vorjahr.
Die ganzen Details sind wirtschaftlich auch nur halbwegs interessierten Zeitgenossen inzwischen alles andere als neu. Ich möchte es mal so formulieren: wenn die Politik, aber auch weite Teile der Gesellschaft und Medien der Ansicht sind, den Unternehmen könne man endlos als einem Packesel immer neue Lasten aufbürden, dann streckt der irgendwann alle Viere von sich.
Ich stelle da stets eine Testfrage: hätten Sie denn richtig Lust, hierzulande ein Unternehmen neu aufzumachen, das eine umweltrelevante Produktion hat? Die ganzen Startups machen meist was in Technik oder Software, aber ich denke da etwa an einen Chemiebetrieb. Bei dem müssten sie nicht nur die Produkte kennen und neue planen, sie würden von unendlich vielen Stellen beäugt, ob sie bei der Produktion und beim Personal auch alles richtig machen und nebenbei müssten sie auch noch als Exporteuer im Ausland Bescheid wissen und die Finanzierung für all das im Auge behalten.
Wie viel einfacher ist es da doch, bei einer Behörde oder einem NGO aufzupassen, ob andere auch wirklich alles richtig machen und alle Zettel korrekt ausgefüllt haben? Verbraucherschutz, Aufsicht und Kontrolle, alles im Grundsatz sinnreich, aber zuweilen übertrieben, wenn das Zusammenspiel von Brüssel, Berlin, NGOs und den Ämtern es so will. Man braucht sich doch nur mal zu fragen, warum auch überschaubar große Projekte in Deutschland immer so lange bis zu ihrer Fertigstellung brauchen? Und warum es sündhaft teuer ist, hierzulande auch nur ein simples Haus zu bauen?
(Quelle: BILD, 15.1.25, https://www.bild.de/regional/ruhrgebiet/notfall-einsatz-bussgeld-weil-arzthelferin-zu-langsam-fuhr-67853683a21b1554a3e6385a und: https://www.bussgeldkatalog.org/30-zone/ )
Vielleicht mal ein Beispiel wie Behörden hierzulande so ticken. Da hatte eine Patientin des Palliativ-Netzwerks in Witten im Ruhrgebiet ein massives Atemproblem, weil sie an Lungenkrebs leidet. Ein Arzt des Netzwerks schickte daraufhin eine Mitarbeiterin los, ihr zu helfen, weil das eventuell lebensbedrohlich werden kann. Die musste dazu durch eine Tempo-30-Zone fahren. Und wurde prompt mit 38 Stundenkilometern geblitzt. So weit so nachvollziehbar. Der Arzt schrieb angesichts des Knöllchens den Ennepe-Ruhr-Kreis an und wies auf die Besonderheit der Geschwindigkeitsübertretung in diesem Fall hin. Auch das noch normal.
Aber nun kommt es, die Antwort der Bußgeldbehörde. Laut einem OLG-Urteil wäre eine Geschwindigkeitsüberschreitung im Notfall nur bei einem „messbaren Zeitgewinn“ zulässig: „Das liegt bei einer Überschreitung von 8 km/h nicht vor.“ Heißt: die Arzthelferin war zu schnell, aber auch zu langsam. Es gebe zwar Ausnahmen, räumte ein Behördenmitarbeiter ein, doch in diesem Falle liege keine vor. Und Einsicht auch nicht, denn ein Sprecher der Behörde lapidar: „Teile der Argumentation im vorliegenden Fall lassen darauf schließen, dass der Betroffene es für angemessen halten würde, wenn sämtliche Geschwindigkeitsüberschreitungen seiner Mitarbeiter ungeahndet bleiben würden.“ Die Fahrerin habe man ermittelt, zahle sie nicht, müsse ein Gericht entscheiden.
Die BILD-Zeitung fragte zu den Chancen dort einen Fachanwalt für Verkehrsrecht und der vermutet: „Die Begründung des Kreises ist wirklich absurd und zynisch. Immerhin ist die Geschwindigkeit um fast 30 Prozent überschritten worden, schneller wäre viel zu gefährlich. Ein Richter wird bestimmt den ‚rechtfertigenden Notstand‘ anerkennen.“ Bei dem Knöllchen dürfte es nach dem neuen Bußgeldkatalog um 58,50 Euro gehen. Da winkt dem Ennepe-Ruhr-Kreis beim Gerichtsverfahren eine fette Einnahme, um die es sich zu Kämpfen lohnt.