dass es an einigen Ecken Deutschlands knirscht, hängt mit einem bisher nie so lange anhaltenden Phänomen zusammen: die Produktivität der Einwohner stagniert seit gut sechs Jahren. Bis zum dritten Quartal 2017 hatte ein in Deutschland lebender Mensch (ohne Preissteigerungen) im Schnitt seit der Wiedervereinigung jährlich 1,3 Prozent mehr an Waren und Dienstleistungen erwirtschaftet. Seitdem jedoch herrscht in dieser Hinsicht Flaute.
Greift man sich den relevanten Zeitraum etwas kürzer heraus, sieht man die Feinheiten der Flaute genauer. Den Coronaeinbruch kann man gleich abhaken, der leuchtet unmittelbar ein und wurde ja auch mit etwas Verzögerung voll wieder aufgeholt. Aber seit dem ersten Quartal 2022 ist die Produktivität wieder abgesackt und diesmal ohne Quarantäne.
(Quelle: destatis, 22.2.24, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/02/PD24_065_12411.html )
Wer bisschen in seinem Gedächtnis kramt, dem fällt natürlich eine zeitliche Entsprechung auf: im ersten Quartal 2022, genau genommen am 24. Februar 2022, begann Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine. Und als Folge strömten Massen an Flüchtlingen von dort nach Deutschland. Am Ende des Jahres waren 1,1 Millionen Ukrainer zu uns gekommen und nur 138.000 wieder zurückgekehrt. Die Netto-Zuwanderung von 960.000 Flüchtlingen 2022 ließ auch die deutsche Bevölkerung ganzjährig um 1,1 Millionen ansteigen. 2023 hat sich der Ukraineeffekt zwar auf nur noch netto 121.000 drastisch reduziert, trug aber immer noch – wenngleich nur noch marginal – zu einem Bevölkerungsanstieg bei.
Lag die Bevölkerung im dritten Quartal 2017, also zu Beginn der Produktivitätsflaute, bei 82,7 Millionen, sind es im vierten Quartal 2023 schätzungsweise 84,7 Millionen gewesen: ein Anstieg um zwei Millionen oder 2,4 Prozent. Da das Bruttoinlandsprodukt real im gleichen Zeitraum nur um 2,2 Prozent stieg, bracht man kein großer Mathematiker oder Statistiker sein, um eine Stagnation der Ausbringung pro Kopf abzuleiten.
Ich will das nicht groß kommentieren, aber Deutschland sollte halt aufpassen, dass es sich nicht übernimmt. Dazu passt dann auch, dass die Mär vom rasch freie Facharbeiterplätze ausfüllenden Zuwanderer nicht so recht zu passen scheint, jedenfalls ist die Zahl der arbeitslos gemeldeten Ausländer kräftig im Aufschwung.
Themenwechsel. In Gutmenschenkreisen ist es ein gern gepflegtes Hobby, auf vorbildliche Entwicklungen in einzelnen Ländern hinzuweisen, die man hierzulande in Bälde nachvollziehen sollte. Beliebt ist dabei wegen der ausgeprägten sozialen Haltung Skandinavien. Irgendwas ist dort immer gerade superprima. Aber so ist das halt mit Vorbildern und guten Beispielen: zuweilen dreht sich die Vorbildfunktion um. Dann aber hörte man davon halt nichts mehr. Hier mal ein Beispiel:
2014, in Schweden regiert eine rot-grüne Regierung und wird für die großzügige Asylpolitik des Landes in Teilen von Europa als vorbildlich humanitär angesehen. Im November des folgenden Jahres ist alles anders. Der grünen Vize-Regierungschefin Åsa Romson (Jahrgang 1972) kommen die Tränen, als sie in einer Pressekonferenz eine erhebliche Verschärfung der Zuwanderungspolitik mit rechtfertigen muss.
Sie spricht von der „furchtbaren Situation“ der Flüchtlinge, um zu begründen, dass das schwedische Asylrecht von ganz hohem auf europäisches „Mindestniveau“ gesenkt werden soll. Sie spricht von einer „Schockwelle“, die dies in Schweden und Europa auslösen würde. Kein Wunder, sie selbst hat schon erhebliche Auseinandersetzungen in ihrer eigenen grünen Partei („Miljöpartiet de Gröna“) – dem kleineren Koalitionspartner – hinter sich.
(Quelle: SZ, 25.11.2015, https://www.sueddeutsche.de/politik/profil-asa-romson-1.2753661 und: https://www.asaromson.se/cv/ und: https://de.wikipedia.org/wiki/Sveriges_socialdemokratiska_arbetareparti )
Doch die Realität siegt über den guten Geist. Alleine in den zwei Monaten vor der Verschärfung haben 80.000 Asylbewerber in Schweden um Aufnahme nachgesucht. Flüchtlinge müssen auf der Straße, in Büroräumen und einer Kirche übernachten. Über 1.300 Ankömmlinge am Tag, das hält man in Stockholms Ministerien unmöglich durch.
Schritt für Schritt wird daher in Windeseile das Asylrecht verschärft. Das Bleiberecht für Flüchtlinge soll beschränkt, der Familiennachzug schwieriger und die Grenzkontrollen verschärft werden. Es sei schwierig für beide Parteien jammert auch der sozialdemokratische Premier Stefan Löfven (Jahrgang 1957) angesichts der Änderungen.
Fünfeinhalb Monate bleibt die Juristin Romson noch im Amt. Auch ihr Koalitionspartner muss politisch sehr hektische Jahre hinter sich bringen, bleibt aber durch viele parlamentarische Untiefen bis November 2021 immerhin sieben Jahre mit seiner „Sveriges socialdemokratiska arbetareparti“ in der Regierungsverantwortung. Allerdings schrumpft der Wähleranteil seiner Partei bei der auf die Asylwende folgenden Reichstagswahl mit 28,3 Prozent auf den niedrigsten Wert seit 1911.
(Quelle: Asylumseekers, Statistics Sweden, https://www.scb.se/en/finding-statistics/statistics-by-subject-area/population/population-composition/population-statistics/pong/tables-and-graphs/asylum-seeker/asylum-seekers/ )
Aber rein von den Zahlen her wirkt die „Notbremse“, der Rekord von 2015 über 160.000 Asylbewerbern wird danach nie mehr auch nur annähernd erreicht. Mit knapp 17.000 im ersten Ukrainekriegsjahr 2022 (darunter 2.062 Ukrainer) sowie 12.644 Antragstellern im letzten Jahr (1.341 Afghanen), bleibt man 2023 bei einem Dreizehntel des Rekords. Da waren die syrischen Asyljahre 2012 bis 2018 von anderem Kaliber: da reisten insgesamt fast 123.000 Bürgerkriegsflüchtlinge allein aus diesem Nahostland in Schweden ein – über ein Prozent der vorherigen Wohnbevölkerung.