Liebe Leser,
Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven (Jahrgang 1957) und vor allem der Chefepidemiologe der Gesundheitsbehörde, Anders Tegnell (Jahrgang 1956), mussten sich ab Frühjahr 2020 arge Kritik der – offizieller und selbsternannter – Seuchenexperten anhören. Ging ihr Land doch unter ihrer Verantwortung einen Sonderweg: einen Lockdown wie in Deutschland mit umfangreichen Schließungen von Läden, Gastronomie oder gar Fabriken gab es in Schweden nie. Zwar wurden auch an der Ostsee Einschränkungen verfügt, aber die klangen in deutschen Ohren eher milde: wie etwa im Restaurant nicht mehr als acht Personen an einem Tisch.
Bilder aus geöffneten Straßencafés erschienen den einen hierzulande als verlockend, bei anderen riefen sie Ängste von überfüllten Leichenschauhäusern a la Italien hervor. Und Chef-Angstologe Karl Lauterbach (Jahrgang 1963), damals statt Minister noch Dauerbesetzer für Sessel in Talk-Shows, schrieb in Instagram aufgebracht: „#Schweden zeigt, wie verheerend falsche wissenschaftliche Beratung in der Coronapolitik sein kann. Tegnell lag fast immer falsch. Und das sehr selbstbewusst. Erstaunlich, dass er noch im Amt ist. Einen ehrenvollen Rücktritt hätte ihm niemand vorgeworfen.“
(Quelle: Deutschlandfunk 24.11.20, https://www.deutschlandfunk.de/corona-politik-in-schweden-sonderweg-noch-nicht-ganz-100.html und Instagram, 4.12.20, : https://www.instagram.com/p/CIXmO12ArGH/?hl=de )
Hitzige Diskussionen um die richtige Strategie sind in Krisenzeiten nicht ehrenrührig, aber sie wurden teilweise im Stil eines Glaubenskampfes geführt. Und das breite Urteil stand zumindest 2020 dann schon fest: je drastischer die Abwehrmaßnahmen, desto besser – am besten noch nachts allein aufs Klo mit FFP3 Maske. Schweden diente auch als potentielles Menetekel, um die harten Maßnahmen zu rechtfertigen.
Als in den Jahren nach diesem Streit der Meinungsideologien der Erfolgsvorsprung der deutschen Abwehrstrategie zunehmend verblasste, wurde es ruhiger um die Schweden/Deutschland-Debatte. Teils weil Corona generell nicht mehr angesagt war, teils weil die glühenden Verfechter harten Lockdowns und Restaurantschließungen auch kein Interesse mehr daran haben konnten. Ich aber bin in solcher Hinsicht ein penetranter Mensch und historisch interessiert. Da denke ich immer, warum soll man nicht aus der Vergangenheit zu lernen versuchen. Das aber kann man nur, wenn man sie nicht bei nächster Gelegenheit vergisst.
Warum das Thema heute, weil inzwischen spannende Zahlen zur Verfügung stehen? Das Problem an der Erfolgsmessung bei Corona war immer, die Stärke der Auswirkungen zu messen. Wenn einer als infiziert beim Robert-Koch-Institut (RKI) in den Statistiken auftauchte, dann war ja noch längst damit nicht gesagt, ob die Ansteckung bei ihm eine ernste Krankheit zeitigen würde.
Und die außerdem herangezogenen Corona-Toten hatten als statistische Schwäche, dass sicherlich nicht jeder Arzt irgendwo in der Provinz bei einem Sterbefall eines gesundheitlich angeschlagenen Seniors COVID-19 als Todesursache nennen würde. Sie erinnern sich vielleicht düster an die Diskussion „an oder mit Corona verstorben“.
Die Statistikgruppe des Wirtschaftsmagazins Londoner ECONOMIST, die ihre Erkenntnisse in einer Rubrik „Graphic Details“ veröffentlicht, ist daher einen anderen Weg gegangen, der zwar nicht über alle Zweifel erhaben, aber ein nicht unspannender Ansatz ist. Sie haben für 156 Länder die Übersterblichkeit zu errechnen versucht. 84 Staaten stellten die dafür nötigen Daten von staatlicher oder wissenschaftlicher Seite bereit, darunter alle großen und wichtigen. Auffällig dabei ist, dass die anhand dieser Berechnungen geschätzte Übersterblichkeit (zeitnahe zu früheren Todesfälle) erheblich über der der offiziell gemeldeten COVID-19-Toten lag. Das ist die rote gepunktete Linie zu den offiziellen grauen Zahlen für die Welt unten.
(Quelle: ECONOMIST, 15.2.24, https://www.economist.com/graphic-detail/coronavirus-excess-deaths-estimates )
Logisch, dass dabei Abweichungen mit weitem Abstand dort am höchsten lagen, wo das Gesundheitssystem besonders dünn ist. In Afrika wurden offiziell pro 100.000 Einwohnern 18,2 COVID-Tote gemeldet. Nach den Schätzungen anhand der demographischen Daten könnten es in Wirklichkeit 120 bis 370 gewesen sein.
(Quelle: Ärztezeitung,23.8.23, https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Anders-Tegnell-schreibt-Buch-ueber-Corona–Pandemie-442239.html )
Groß ist der Abstand auch in Ländern, die auf Transparenz – gerade damals in Corona-Zeiten – absichtlich nicht so großen Wert legen. So wies China, berüchtigt für seine Super-Lockdowns, insgesamt knapp 122.000 Corona-Tote aus, die Übersterblichkeit aber soll nach Schätzungen der ECONOMIST– Experten bei bis zu 4,9 Millionen Chinesen gelegen haben. Das ist eine Übersterblichkeit die noch deutlich höher als im gerade erwähnten Afrika liegt. Da war selbst Russland präziser, wenn man das bei den weit auseinanderklaffenden Zahlen so sagen will: dort starben offiziell rund 400.000 Corona-Opfer, aus der Statistik folgt eine Übersterblichkeit von 860.000 bis 1,3 Millionen.
Am Ende zurück zur Frage zu Beginn der Mail: was ist denn nun mit Schweden und Deutschland gewesen? Hier sind die Unsicherheitsspannen deutlich geringer. Im Nordosten jenseits der Ostsee starben seit Coronaausbruch je 100.000 Einwohner 220 bis 230 Schweden mehr als vorher üblich. Und nun – festhalten Herr Lauterbach – im strengeren Deutschland, zeitweise beherrscht von der um das Kanzleramt erweiterten Konferenz der Ministerpräsidenten, waren es 340 bis 350.
Das heutige Ergebnis half zwischenzeitlich dem Arzt und Staatsepidemiologen Tegnell nicht so recht Mehrfach räumte er öffentlich ein, das auch ihm einige Fehleinschätzungen unterlaufen seien. Insbesondere gab er zu, dass er mit einer leichteren Abschottung der besonders gefährdeten älteren Mitbürger falsch gelegen hätten.
Hingegen hielt er an seiner Kritik an der Wunderwirkung des erzwungenen Maskentragens fest: „Das Resultat, das man durch die Masken erzeugen konnte, ist erstaunlich schwach, obwohl so viele Menschen sie weltweit tragen. Es überrascht mich, dass wir nicht mehr oder bessere Studien darüber haben, welche Effekte die Masken tatsächlich herbeiführen. Länder wie Spanien oder Belgien haben ihre Bevölkerung Masken tragen lassen – trotzdem gingen die Infektionszahlen hoch. Zu glauben, dass Masken unser Problem lösen können, ist jedenfalls sehr gefährlich.“
(Quelle: und: Verlag Natur & Kultur, https://www.nok.se/titlar/allmanlitteratur-sakprosa/Tankar–efter-en-pandemi/2392eb21-4dc4-4f10-a539-30888120023e udn: https://de.wikipedia.org/wiki/Anders_Tegnell )
In seinem Buch „Tankar efter en pandemi“, „Gedanken nach einer Pandemie“, hat er Ende vorigen Jahres eine ruhige Bilanz seiner Strategie gezogen. Ich habe es nicht gelesen, weil ich des Schwedischen nicht mächtig bin und keiner es hierzulande übersetzt hat. Aber nach Angaben des Verlages soll es eine ausgewogene Darstellung von positiven und kritischen Aspekten der Strategie sein. Auf jeden Fall sprechen die Zahlen eher für seine Sicht der Dinge und schwer messbare Teilaspekte wie entgangene Lebensfreude, weniger Lehrerkontakt der Schüler oder Vereinsamung von Alten kämen ja vielleicht noch hinzu.
Man muss schon sehr großzügig die erkennbare Unsicherheit beim Umgang mit der Seuche in deutschen Landen zur damaligen Zeit in Rechnung stellen, wenn man sich jeder Häme bei besonders harten Hardlinern damaliger Tage verkneifen will. Ich will keine Zitate von damals mehr zitieren, auch wenn es einem natürlich in den Fingern juckt.
Zwar erlebte auch Schweden immerhin fünf Sterblichkeitswellen, aber bei ihnen lagen gemeldete Corona-Tote und Übersterblichkeit recht nahe beieinander. Anders formuliert: die Schweden haben die Seuche ziemlich penibel dokumentiert. Und nun kommt ein dicker Unterschied in Deutschland: zwar traf auch hierzulande in der ersten Corona–Sterbewelle die Zahl der offiziellen Meldung sehr gut mit der Übersterblichkeit zusammen.
Aber je mehr Zeit ins Land ging, desto weniger Übersterblichkeit wurde noch von Corona-Meldungen abgedeckt. Am Ende kamen dann gar keine mehr. Das legt den Verdacht nahe, dass die offiziellen Stellen – vorher so emsig – das Interesse an der Seuche zunehmend verloren. Da mag man nun das Aufkommen anderer Themen – wie steigender Flüchtlingszahlen – wohlwollend unterstellen oder dass man nicht mehr so gerne an die harsche Tour zu Coronabeginn erinnern wollte.
Ich finde diesen Rückblick in Coronazeiten durchaus spannend. Aber wenn er einen Sinn haben soll, dann wäre das am besten ein solider Plan wie man in Zukunft in solchen Fällen vorgehen sollte. Sowas liegt natürlich im bürokratieverliebten Deutschland als Katastrophenplan irgendwo in der Schublade, aber die Tücke bei COVID-19 war ja gerade, dass die Pandemie in Art und Umfang so nur begrenzt vorhergesehen worden war. Und aufgescheuchte Hühner würden sich auch nicht an einem Plan halten, wenn der Fuchs in ihr Gehege eindringt – selbst wenn sie einen gehabt hätten.
Am Ende dann als kleines Beispiel für aufgescheuchte Hühner unser weiß-blauer Ministerpräsident Markus Söder (Jahrgang 1967). Der hatte im Februar 2022 eine weitere Quelle der Unsicherheit im Zuge der Seuche entdeckt: „Wir dürfen am Ende keine ‚Corona-RAF‘ bekommen, für die Gewalt akzeptabel wäre“, warnte er vor Querdenkern und militanten Impfgegnern.
(Quelle: BR24, 19.2.22, „Querdenker„-Szene: Söder warnt vor „Corona-RAF“ )
Und hatte auch schon eine Diagnose parat: „Auf Plattformen wie Telegram entstehen abgeschlossene Blasen von Verschwörungstheoretikern. Wenn dort immer absurdere Fake-News als Wahrheiten verkauft werden, besteht die Gefahr, dass Einzelne daraus ein vermeintliches moralisches Widerstandsrecht entwickeln.“
Als Therapie folgerte Söder: „Was generell auf Seiten des Bundes fehlt, ist ein entschlossenes juristisches Vorgehen gegen Plattformen wie Telegram.“ Denn über die Plattform würde „mit Abstand“ die meiste Hetze verbreitet. Nun mag man es als Politiker natürlich nett finden, die Verbreitung von aus eigener Sicht Blödsinn einfach zu verbieten. Nur das alte Problem dabei: wer entscheidet denn was Wertvolles, vielleicht Bedenkenswertes, Grenzwertiges oder Verbotswürdiges ist? Der Papst steht halt nicht bei jeder Frage zur Verfügung.
Wenn ich am Ende noch einen persönlichen Wunsch äußern darf: bitte nun nicht aus den Zahlen und Grafiken eine Neuauflage der Diskussion um die Impfungen mit mir zu starten versuchen. Die Angaben können Sie alle über den Link unter der ersten Grafik selbst ansehen und interpretieren wie Sie mögen. Aber für mich ist der Drops um die Sinnhaftigkeit der Großimpfung gelutscht.