Liebe Leser,
wissen Sie, ich habe ja nun selbst über ein Jahrzehnt bei Zeitungen und Magazinen im Medienbereich gearbeitet. Und ich verfolge Zeitungen und Nachrichten über fast sechs Jahrzehnte, aber ich bin immer noch von einem Phänomen in seiner Intensität einen Rest verblüfft: dass die Medien immer nur ein Thema richtig umfangreich verfolgen können. Immerhin besteht die Welt doch sicherlich aus mehreren oder gar ganz vielen Entwicklungen, die parallel laufen. Was meine ich damit?
Am 20. August 2018, dem ersten Schultag nach den Ferien, saß vor dem Gebäude des Schwedischen Reichstags ein autistisches 15-jähriges Mädchen mit einem selbstgemalten Schild „Skolstrejk för klimatet“ (Schulstreik fürs Klima). Wie das Gekrakel zu weltweiter Bedeutung gelangen konnte, ist bis heute nicht recht klar. Könnte sein, dass die medienerfahrenen Elter von Greta Thunberg (Jahrgang 2003) dabei die Hände im Spiel hatten.
Nach Deutschland drang die Welle erstmals mit einem Artikel der Linkenpostille „taz“ am 27. August 2018 vor. Was dann allfreitäglich mit „Fridays for Future“ zu einem riesigen Spektakel anwuchs, braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden. Der Teenager durfte den Großen der Welt frech die Meinung geigen („How dare You“) und jeder hörte brav zu oder wartete brav im Stau ab, bis die vorzugsweise Girlies lärmend vorübergezogen waren. Auch für das zwischen 2018 bis zum Coronaausbruch Anfang 2020 folgende Medienechos brauche ich wohl nicht mit Beispielen aufwarten. Wochenlang rätselten Journalisten herum, wie Greta denn zum UNO-Auftritt in New York umweltkorrekt gelangen würde.
(Quelle: taz, 27.8.2018, https://taz.de/15-jaehrige-Aktivistin-aus-Schweden/!5528023/ )
Auch erst drei, vier Jahre ist es her, da gab es seit März 2020 anschließend praktisch kein Thema mehr neben Corona. Die letzte Frage zu Inzidenzen, Impfungen, Vorsichtsmaßnahmen oder Auswirkungen wurde bis in die tiefsten Tiefen ausgeleuchtet. Überall gab es Tabellen und Grafiken dazu. Neue Varianten des Virus tauchten in Südafrika oder Indien auf. Die Corona-Experten konnten gar nicht so lange sülzen, wie ihnen in Talk-Shows zugehört wurde.
Das war spätestens mit dem 24. Februar 2022 vorbei, als Putins Panzer ihren Blitzkriegversuch in der Ukraine starteten, der dann ziemlich in die Hose ging. Auch diesmal wieder voller Medieneinsatz. Plötzlich kannte jeder Städte wie etwa Bachmut (ehemals 74.000 Einwohner), von denen vorher niemand gehört hatte. Kriegsberichterstatter schauten in schlammigen Straßen stehend über die Opfer betrübt traurig drein. Alle paar Tage wurde ein Gräuel bekannt und diskutiert.
Daheim bildete sich ein ganzes Corps von Militärexperten, das von abgehalfterten Offizieren bis zur FDP-Sachkundigen mit dem Endlosnamen Marie-Agnes Strack-Zimmermann (Jahrgang 1958) reichte. Dazwischen emsige Diskussionen ob man Kriegsgerät liefern sollte, das die Öffentlichkeit als Marder oder Leoparden zuvor eher im Zoo verortet hätte. Schon seit April scheint Marie-Agnes nun das Gezerre um Taurus-Raketen und anders Bombardement langweilig geworden zu sein und es zieht sie zum EU-Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg.

(Quelle: RND, 17.4.23, https://www.rnd.de/politik/europawahl-strack-zimmermann-soll-als-fdp-spitzenkandidatin-antreten-HOFK22WV6VFLPCCSQKPQAIUB3I.html )
Nun wieder ein Schwenk am 7. Oktober 2023, seither konzentriert sich das öffentliche Interesse auf einen 360 Quadratkilometer großen Landstreifen im Nahen Osten. Was ist im Norden von Gaza los, was macht der Grenzübergang zu Ägypten? Wo fallen die Bomben Israels? Wann kommt die Bodenoffensive? Wieder mal ein Krieg der Bilder und Berichte.
Die einzigen, die es mit schöner Regelmäßigkeit schafften, in diese jeweiligen Berichtsmonopole zu grätschen, waren ausgerechnet die Klimakleber. Hut ab im Hinblick auf die Öffentlichkeitsarbeit, sie entfalteten beachtliche Fantasie, wo man sich statt auf Straßen oder an Gemälden noch alles ankleben könnte. Mit orangener Farbe an Kleinflugzeugen oder dem Brandenburger Tor schufen sie nebenbei sogar so etwas wie ein Markenzeichen, neudeutsch Brand.
(Quelle: Berliner Morgenpost, 25.10.23, https://www.morgenpost.de/politik/article239885799/Klimaaktivistin-klebt-sich-nach-Urteil-in-Gerichtssaal-fest.html )
Das Erstaunliche an alledem: mit Aufkommen der neuen Berichtswelle ebbt die alte schlagartig stark ab. Gibt es Corona noch, wie wird in der Ukraine gekämpft? Das kommt alles so gut wie nicht mehr vor. Und so werden auch alte Aufreger erster Güte weitgehend verdrängt. Ist in Syrien eigentlich noch Bürgerkrieg?
Ich biete mal einen Erklärungsversuch für diese schwallartige Berichterstattung an. Medien sind prozyklisch, was der Kunden zu hören wünscht, das bieten sie in Fülle an. Oder genauer gesagt, was sie für seinen Wunsch halten. Dabei wird das Thema dann im Laufe der Zeit so totgeschwafelt, dass alle Beteiligten heilfroh sind, wenn sich ein neues Feld erschließen lässt. Kein Sensationsinteresse währt ewig, weil die Infos irgendwann beim besten Willen keine Sensationen mehr sind. Dann muss eine neue Sau durch Dorf getrieben werden.
Ich würde Ihnen als Konsequenz daraus eine für Sie positive Variante anbieten: nehmen Sie doch den gerade aktuellen Aufreger nicht ganz so ernst, wie Ihnen die Medien das nahe legen. Denn viele dieser Dinge tangieren Ihr Leben am Ende dann doch eher wenig. Und wenn sie sich doch auswachsen sollten, dann bleibt meist genug Zeit, sich immer noch darauf einzustellen.
Die Alternative wäre doch, in einen Zustand der permanenten Erregung und Angst zu geraten. Da braucht man sich ja nur die eingangs geschilderte Kette von Sensationswellen in Erinnerung rufen. Die „BILD“ wird nicht einen einzigen Tag mit der Titelzeile erscheinen: gestern war nun wirklich nichts Böses los. Und auch die „Tagesthemen“ machen immer ihre 15 Minuten voll, egal, was gerade passiert ist, gute Nachrichten sind dabei eher selten.