Liebe Leser,
denkbar, dass die in Berlin Politisch-Verantwortlichen andere Berichte oder Zeitungen lesen als ich. Jedenfalls herrscht bei ihnen im Hinblick auf die wirtschaftlichen Aussichten des Landes durchaus Zuversicht. Vor dem Bundestag betonte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Jahrgang 1969) vor einer Woche: „Wir sind ein starker Standort. Wir sind ein hochinteressanter Standort für ausländische Investoren.“
Und sein Chef Olaf Scholz (Jahrgang 1958) forderte vor knapp drei Wochen in einem ZDF-Interview ein „ganz neues Tempo“ beim Ausbau der Stromgewinnung aus Windkraft, Solarenergie, Biomasse und Wasserkraft. Dies werde eine Wirkung auf die ganze Wirtschaft haben. Vor einigen Monaten hatte er aufgrund der hohen Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen gar „Wachstumsraten wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders in den 1950-er und 1960-er Jahren“ in Aussicht gestellt.
(Quelle: HB, 7.9.23, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/konjunktur-habeck-warnt-vor-schlechtreden-des-wirtschaftsstandorts-deutschland/29378576.html und FR, 27.8.23, https://www.fr.de/wirtschaft/wirtschaftsexperten-rezession-deutschland-zukunft-olaf-scholz-bundeskanzler-aussagen-kritik-92463950.html )
Kleiner Einschub. Dass an Scholzens neuem Tempo noch einiges zu feilen bleibt, muss gerade der Fußballstar Lukas Podolski (Jahrgang 1985) erfahren. Seine Minikette „Ice Cream United“ möchte nach zwei Filialen in Köln zusammen mit Kevin Großkreutz (Jahrgang 1988) auch eine Dependance in Dortmund eröffnen. Dort soll es dann – wie schon bisher am Rhein – Offerten wie „EFFZEH Becher“ (7,00 Euro), Poldi-Sandwich“ (4,00 Euro) oder „ELFMETER“ (4,50 Euro) geben. Die beiden Weltmeister von 2014 möchten dort aber auch ein auf Dortmunder Verhältnisse zugeschnittenes Angebot präsentieren, etwa schwarz-gelbes Eis für BVB-Fans.
(Quelle: https://www.icecreamunited.com/ )
Seit neun Wochen ist man zusammen mit einem Profipartner aus der Eisbranche startbereit. Auch das sonst so leidige Personalproblem scheint mit zwei Festangestellten und interessierten Aushilfen kein Thema. Fast alle Genehmigungen, etwa für den Betrieb des Außenbereichs, liegen auch längst vor. Nur auf einer fehlt noch der Stempel eines Dortmunder Amtes. Pech für Podolski & Co., denn vermutlich wird man bestenfalls Ende des Monats die Eiskugel rollen lassen können. Praktisch ist das dann wohl der ideale Termin für den Start einer Eisdiele.
(Quelle: Neue Ruhrzeitung von einem netten Leser gescannt und: Ruhr24, 19.9.23, https://www.ruhr24.de/dortmund/kevin-grosskreutz-dortmund-eisdiele-eroeffnung-kritik-stadt-amt-lukas-podolski-kreuzstrasse-92518361.html )
Ganz anders als die oben zitierten Spitzenpolitiker urteilen Leute, die mit der realen und nicht der in Berlin ausgedachten Wirtschaft in Verbindung stehen. „Die Lage ist ernst und die Stimmung dementsprechend schlecht“, stellte zum Beispiel der Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Markus Steilemann (Jahrgang 1970), kürzlich fest und fasste die Bedenken der drittgrößten deutschen Branche so zusammen: „Hohe Energiepreise und Überregulierung gehen vielen deutschen Unternehmen zunehmend an die Substanz.“ Der Mann ist nicht nur Verbandler, sondern auch studierter Ingenieur und Chef des Kunststoffherstellers Covestro.
Mit Blick auf die zuständigen Ministerien in Berlin ergänzt er: „Natürlich nehmen wir als Branche wahr, dass die Politik nicht die Augen vor den aktuellen Problemen verschließt. Aber Worte sind noch keine Taten. Die Bundesregierung muss den Alarmruf der energieintensiven Industrie ernst nehmen.“ Die Aufregung Steilemanns ist nicht verwunderlich, gegenüber dem letzten Zwischenhoch im 2. Quartal 2021 sackte die Chemieproduktion bis zum vergleichbaren Drei-Monats-Zeitraum von Mai bis Juli um 14 Prozent ab. Im Vergleich zum 3. Quartal 2018, dem bisherigen Spitzenwert, war es gar ein Fünftel.
Das laufende Jahr haben die Chemiemanager daher gedanklich bereits beerdigt. Der VCI rechnet jetzt mit einem ganzjährigen Produktionsrückgang von acht Prozent. Und schlimmer noch, angesichts rückläufiger Preisen wird der Branchenumsatz 2023 nach Verbandseinschätzung voraussichtlich um satte 14 Prozent sinken. Natürlich haben sich auch einige Vormaterialien verbilligt, aber bei einem Umsatzminus um ein Siebtel wird es schwer werden, im teuren Deutschland mit Chemikalien gutes Geld zu verdienen.
Im 2. Quartal lag die Auslastung der Branche bei etwas über 77 Prozent. Das ist deutlich weniger als die Normalauslastung der Anlagen von 82 bis 85 Prozent. In einer kapitalintensiven Industrie wie der Chemie haut das ziemlich rein. Und in diesen Zahlen ist schon die vergleichsweise stabile Pharmasparte mit enthalte.
(Quelle: VCI, https://www.vci.de/presse/pressemitteilungen/erholung-rueckt-in-weite-ferne-wirtschaftliche-lage-der-chemiebranche.jsp )
Die Chemie steht mit ihren Sorgen um Energiekosten nicht alleine. Dem aussagekräftigen Dashboard des Statistischen Bundesamtes kann man eine Grafik entnehmen, die ich nur der besseren Übersichtlichkeit etwas zusammengefasst habe. Man sieht in der roten Markierung klar, dass die konjunkturelle Schwachstelle die energieintensiven Industrien sind. Im gesamten Produzierenden Gewerbe insgesamt sieht es mau, aber nicht dramatisch aus (orangene Linie).
(Quelle: destatis dashboard, https://www.dashboard-deutschland.de/pulsmesser_wirtschaft/pulsmesser_wirtschaft_monthly )
Verstärkt wird der Abwärtstrend derzeit auch durch einen brutalen Lagerzyklus. Nach Beginn des Ukrainekrieges hatte man bei allem, was mit Öl, Gas und Rohstoffen in Verbindung stand die Läger vollgeknallt. Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt und die Lagerbestände werden allerorten reduziert. Das schwächt natürlich die laufende Nachfrage. Das könnte gegen Jahresende auslaufen und stabilisieren. Von den schönen neuen Zeiten im Sinne vom Bundes-Olaf sind wir aber noch ein ganzes Stückchen entfernt.
Anderes Thema. Immer wenn die Börse einen Trend sehr intensiv spielt, dann ist eher Vorsicht geboten. Allzu oft verführen längere Kursgewinne zu euphorischen Zukunftseinschätzungen. In der Vorstellungswelt der gerade gut verdienenden Börsianer werden dann die an sich auch wirklich guten Zukunftsaussichten überschätzt.
Besonders anfällig dafür ist die Halbleiterbranche. Jeder ahnt, tendenziell könnte es mit ihr noch lange Zeit aufwärts gehen. Und wirklich, sowohl in den nominalen Umsätzen (braune Linie), als auch in den um die Inflation bereinigten Werten (rote Linie) zeigte der Trend markant nach oben. Allerdings wurde dieser Aufschwung mehrfach von empfindlichen Einbrüchen unterbrochen.
Was dann wegen gleichzeitiger Rückgänge von Absatzmengen und Preisen die Unternehmen zuweilen arg beutelte. Auch diesmal ist trotz so eines konjunkturellen Rückschlags die Stimmung eigentlich noch sehr passabel, weil Zukunftsthemen wie „Künstliche Intelligenz“ oder „Autonomes Fahren“ mit riesigem Halbleiterbedarf herumgereicht werden.
Aber Vorsicht: wann kann ich Ihnen nicht sagen, aber der Bauboom für neue Fabriken und die Verlagerung von Herstellung von Asien nach USA und Europa mit großzügigen Investitionshilfen des Staates werden früher oder später den Markt nicht kalt lassen (siehe dazu auch: Mail vom 25.8.23 „Halbleiter: Tipps bei Chips“).