Liebe Leser,
ich verstehe wirklich nix von Fußball, aber selbst einem Ignoranten wie mir fällt auf, dass trotz extremer Bezahlung in dieser Sportart die deutschen Kicker und Kickerinnen bei internationalen Turnieren nicht gerade mit Torfluten aufwarten. „Unser Fußball in Trümmern. Wie kommen wir da wieder raus?“ sorgt sich die Boulevardzeitung BILD. Und erinnert an die letzte „Siegesserie“ der männlichen A-Nationalmannschaft, die bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 in der Vorrunde scheiterte. Die Männer-U21 schied bei der Europameisterschaft als Vorrunden-Letzter aus. Und die bisher hochgelobten Damen mussten nach einem 1:1 gegen Südkorea gerade bei der WM schon vor der Vorrunde die Heimreise antreten.
Wo BILD Recht hat, hat die Zeitung halt Recht. Sie verweist auf ein jahrelanges Unterfangen der Deutschen Fußball Bund (DFB) beim Jugendsport den Leistungsdruck zu verringern. In Berlin oder Hamburg steht bei den ganz Jungen schon jetzt „o.E.“ hinter der Paarung – ohne Ergebnis. Nun soll in den Bundesligen für A- und B-Jugend ein Abstieg der Mannschaften ausgeschlossen werden. BILD: „Egal, welche Ergebnisse sie erzielen, sie haben in der darauffolgenden Saison ihren Platz in der höchsten Liga sicher.“
Nun verlasse ich mich natürlich nicht auf einen BILD-Artikel, sondern schaue an der Quelle – also beim DFB – nach. Und da findet man das Projekt „weniger Leistungsdruck“ tatsächlich in Jubelform: „Wir fördern mit dem neuen System eine bessere individuelle Entwicklung der Spieler, ohne zu hohen Ergebnisdruck durch drohende Abstiege und ohne zu viel Mannschaftstaktiken (Fettung von pm)“, sagt Hermann Winkler (Jahrgang 1963), für den Nachwuchs zuständiger DFB-Vizepräsident. Die Wettbewerbe sollen vorrangig der Überprüfung der im Training erarbeiteten Lerninhalte der Talente aus den Profi- und Amateurvereinen dienen und nicht der zu frühen taktischen Gegnervorbereitung.“ Klingt reichlich freudlos, wie in der Schule.
(Quelle: DFB, https://www.dfb.de/news/detail/ab-20242025-dfb-nachwuchsliga-ersetzt-a-und-b-junioren-bundesliga-253058/ und: https://www.dfb.de/news/detail/was-sich-in-der-a-und-b-junioren-bundesliga-veraendert-253060/ )
Das im nächsten Bild ist dieser Knabe, ein abgehalfterter Politiker aus Sachsen. Als man ihn dort 2019 nicht mehr bei der Europawahl auf die Landesliste setzen wollte, hat er sich zum Sport-Spitzenfunktionär gemausert. So mit Krawatte und Einstecktüchlein im offiziellen DFB-Foto habe ich mir einen Sportfunktionär immer vorgestellt.
(Quelle: BILD, 4.8.23, https://www.bild.de/sport/fussball/hsv/dfb-schafft-den-wettbewerb-ab-keine-ergebnisse-keine-bundesliga-84928050.bild.html und: und: https://www.dfb.de/verbandsstruktur/praesidium/hermann-winkler/ und: https://www.zeit.de/news/2023-05/15/instagram-seite-von-dfb-vize-winkler-nicht-mehr-aufrufbar?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
Zuletzt war Winkler diesen Mai in die Kritik geraten. Auf seiner Instagram-Seite hatte er sich despektierlich über den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj geäußert. Ungeschickterweise auch noch als der gerade in Aachen mit dem Karlspreis ausgezeichnet wurde und in Bremen das 1.000-ste Länderspiel der Nationalmannschaft mit der Ukraine anstand. Der DFB kündigte daraufhin ein Gespräch mit seinem Vizepräsidenten über den Instagram-Post an, der zuvor schnell gelöscht worden war. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums gab sich auf Anfrage der Nachrichtenagentur dpa schmallippig: „Das BMI als Sportministerium sieht keinen Anlass, diese völlig indiskutable Äußerung näher zu kommentieren.“
Es wäre allerdings weit gefehlt, die neue deutsche Welt beim Jugendfußball allein Winkler anzulasten, der Beschluss für die Einführung der zukünftigen Liga-Statuten fiel im DFB-Präsidium einstimmig. Wenn man Leistungsdruck vom Nachwuchs so weit wie möglich fernhalten will, dann sollte man den Schlusssatz von BILD beim DFB mal bedenken: „Dumm nur, dass es bei einer EM oder WM wieder um Ergebnisse geht …“ Aber vielleicht steht diese Denkweise irgendwie inzwischen für das ganz Land: mia san mia, egal was da draußen für ein Wettbewerb herrscht.
Themenwechsel. Das Jahr 2020 – Sie erinnern sich vielleicht – war für die USA mit Corona und vor allem der spektakulären Abwahl von Donald Trump als Präsident eine traumatische Zeit. Da hatten die Verantwortlichen bei der US-Football-Liga NFL eine Idee für das anstehende Megaereignis des Folgejahres 2021, das alljährliche Endspiel ihrer Top-Teams „Super Bowl“: „Was würde uns Vince Lombardi (1913-1970) heute sagen, wenn er zurückkäme?“ Die Trainerlegende hatte mit seiner Mannschaft fünf Meisterschaften in sieben Jahren gewonnen, darunter die ersten beiden Super Bowls, und wurde 1971 in die „Football Hall of Fame“ aufgenommen, nachdem er 1970 an Darmkrebs verstorben war. Man beschloss, den bürgerlich bieder, aber sympathisch wirkenden Trainer virtuell nachbauen und im Spot vor dem Münzwurf für über 100 Millionen amerikanische Zuschauer – im Gegensatz zu launigen Filmchen der Vorjahre – mit verbindenden Aussagen auftreten zu lassen.
(Quelle: USA TODAY, 31.1.21, https://eu.usatoday.com/story/sports/nfl/super-bowl/2021/01/31/nfls-super-bowl-commercial-features-walking-talking-vince-lombardi/4292993001/ und: https://de.wikipedia.org/wiki/Vince_Lombardi )
Beauftragt wurde damit die auf Computeranimationen spezialisierte Firma Digital Domain. Sie beschreibt die Aufgabenstellung so: „Eine verbindende Figur aus der Vergangenheit sollte auftreten und vermitteln, dass wir gemeinsam stärker sind als getrennt.“ Innerhalb von fünf Wochen schafften die Experten das Schwierige: „Mit dem Segen von Lombardis Erben arbeiteten NFL und Digital Domain zusammen, um einen adaptiven, hochauflösenden Digital-Lombardi zu entwickeln, der in einem Sendespot und im Stadion als lebensgroßes Hologramm verwendet werden konnte. Sie nutzten stundenlanges historisches und Film- und Audiomaterial von NFL Films … um den toten Coach wiederzubeleben.“
(Quelle: Digital Domain, https://digitaldomain.com/work/nfl-super-bowl-lv-commercial-as-one/ )
Und wie funktionierte das im Detail? Wieder die Darstellung von Digital Domain: Man verschmolz Aufnahmen eines Schauspielers, der Lombardi ähnlich sah und jahrzehntealte 2D-Bilder sowie Videoaufnahmen zu einer Kunstfigur, die „nicht nur realistisch aussah, sondern auch glaubwürdige Emotionen artikulieren konnte“. Das Team fügte jedes mögliche Detail von Falten bis zu Augenbrauenhaaren hinzu und nutzte eine von der Firma entwickelte Face-Swap-Technologie namens „Charlatan“, um die Effekte zu vervollständigen. Auch bei der Stimme wurden Originaltonaufnahmen und ein Sprecher mit ähnlicher Stimmlage kombiniert.
Die Reaktion fiel etwas gespalten aus. Das Hologramm im Stadion wirkte wohl wie eine Videospiel-Figur früherer Jahre (siehe nächstes Bild). Fernsehkomiker Jimmy Fallon witzelte hinterher abwertend, ein Partygirl wäre so besoffen gewesen, dass sie sogar mit dem Hologramm rumgemacht habe. Indes fiel der Werbefilm – selbst nachzuschauen auf YouTube – durchaus realistisch aus. Ihn haben allein auf YouTube 11,4 Millionen Zuschauer geklickt. Doch das inzwischen schon fast drei Jahre alte Beispiel scheint zu illustrieren, auf welchem Weg die Animationstechnik ist. Und offenbar nehmen sie die Schauspieler in Hollywood bierernst. Seit Wochen wird die US-Filmbranche von einem Streik erschüttert, in dem es neben den üblichen Lohnforderungen auch um die Rechte an virtuell weiterverarbeiteten Aufnahmen menschlicher Darsteller geht.
(Quelle: YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=SilS_vq4XOw und Witz: https://www.nytimes.com/2021/02/09/arts/television/late-night-super-bowl-tom-brady.html?searchResultPosition=1 )
Die Gewerkschaft SAG-AFTRA mit den von ihr vertretenen mehr als 150.000 Fernseh- und Filmschauspielern befürchtet, dass ein Vorschlag der Hollywood-Studios, der von den Darstellern die Nutzung ihrer digitalen Repliken nach dem Erstvertrag fordert, dazu führen könnte, dass die Stimmbetonungen, Ähnlichkeiten und Körper vielfach in verschiedenen Kontexten umsonst genutzt werden können. Die Gewerkschaft verlangt Transparenz und „eine faire Entschädigung“, wenn eine „digitale Nachbildung“ oder ein menschlicher Auftritt mithilfe von KI verändert wird.
Vor allem geht es dabei um das Hollywood-Fußvolk. Die „New York Times“ zitiert dazu Jennifer E. Rothman, Professorin an der juristischen Fakultät der University of Pennsylvania, die sich auf geistiges Eigentum spezialisiert hat. „Es sind die Nachwuchskräfte und die Statisten, die keinen Einfluss haben werden“, sagte sie. Und Lawson Deming, ein Supervisor für visuelle Effekte und Mitbegründer von Barnstorm, sekundiert: Berühmte Schauspieler könnten in ihren Verträgen aushandeln, dass sie ihre Konterfeis besitzen, aber die überwiegende Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder werde nicht so viel Glück haben.
(Quelle: NYT, 4.8.23, https://www.nytimes.com/2023/08/04/arts/television/actors-strike-digital-replicas.html )
Synchronsprecherin Linsay Rousseau bringt das Problem auf den Punkt: die Darsteller haben Angst vor einer Zukunft, in der künstliche Intelligenz die Rollen für Menschen reduziert oder ganz wegfallen lässt: „Wir machen uns Sorgen, dass wir etwas aufnehmen, sie dann diese Stimme synthetisieren und uns nicht darüber informieren. Oder sie verarbeiten sie, um neue Stimmen zu schaffen, und ziehen daher keine Schauspieler mehr hinzu, um diese Arbeit zu erledigen.“ Vermutlich keine ganz unberechtigte Furcht.